Nur Mut
In meiner früheren Klinik wurde den Patienten bei Terminvereinbarung ein Fragebogen zugesendet, welcher vor dem Erstgespräch von den Patienten ausgefüllt werden sollte. Die Patienten machten darin kurze Angaben zur aktuellen beruflichen und sozialen Situation, sowie zum Vorhandensein und Intensität diverser Symptome oder Verhaltensweisen. Oberflächlich gelang es dadurch einen ersten Eindruck vom Patienten und dem Vorstellungsgrund zu bekommen. Mir persönlich war der Fragebogen nicht so wichtig, denn in der Regel entwickelte sich das Gespräch anders als gedacht. Dennoch stolperte ich jedesmal über eine kleine Aussage, ziemlich am Ende des Fragebogens, die, obwohl ich keine deskriptive Auswertung vorgenommen habe, die überwiegende Mehrzahl meiner Patienten bejahte.
Ich habe niemanden mit dem ich über meine Probleme reden kann.
Auch nach Jahren konnte ich mich irgendwie nicht daran gewöhnen und es versetzte mir jedesmal einen kleinen Stich im Herzen.
Die Patienten, die diese Frage bejahten, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Zu Beginn meiner Arbeit wunderte ich mich darüber oft, waren doch die Meisten eigentlich sozial gut integriert. In der Anamnese zeigten sich oftmals enge Beziehungen zu Arbeitskollegen, unterstützende Partnerschaften, vertraute Freunde.
Und dennoch: Ich habe niemanden mit dem ich über meine Probleme reden kann.
Oft habe ich diese Diskrepanz im Gespräch thematisiert. Und ja, der Großteil stimmte mir zu, dass es prinzipiell vertraute Menschen im Umfeld gäbe, denen man sich anvertrauen könnte, man es aber nicht tut. Aus Sorge: Sorge, jemanden zu sehr zu belasten, Sorge, nicht verstanden zu werden, Sorge, nicht mehr als stark zu gelten, Sorge, fallen gelassen zu werden und und und. Da waren sie wieder: ganz viel Angst und Scham.
Korrekt müsste die Aussage im Fragebogen also eigentlich heißen: Ich hätte jemanden mit dem ich über meine Probleme reden kann, aber ich traue mich nicht.
Ich rede und schreibe oft darüber wie Angehörige und Freunde, sich richtig verhalten können, wie man jemanden unterstützen kann, wenn er oder sie von seinen Problemen berichtet. Aber das nützt alles nichts, wenn sie nichts von diesem Problemen wissen.
Ich kann niemanden eine Garantie darauf geben, dass sich anvertrauen von unmittelbaren Erfolg gekrönt ist. Es kann durchaus passieren, dass man nicht verstanden oder sogar abgelehnt wird. Aus der Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass dies eher selten passiert. Obwohl ich auch hier keine deskriptive Erhebung und Auswertung vorgenommen habe, die überwiegende Mehrzahl meiner Patienten, die sich jemanden außerhalb der Therapie anvertrauten, haben es nicht bereut. Nur Mut.
Ja, stimmt…..schreiben sie mein Elend nicht so genau auf😉😀
Eine ehemalige Therapeutin verfolgte den gleichen Ansatz, auch im Alltag Gesprächssituationen zu schaffen und sich zu öffnen. Ich habe eine systemische Therapie gemacht und diese dann nicht mehr benötigt. Es hat wirklich geholfen, mutig zu sein und Mitmenschen an Sorgen und Problemen teilhaben zu lassen.
Mein Kollege hat sich zu einer Psychotherapie entschlossen. Ich finde, dass es Zeit wurde. Er fährt seit Monaten nur mit halber Kraft.